Percival Everett: James

„Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, erzählt aus einer anderen Perspektive. Nicht wie bei Mark Twain aus der des Titelhelden, sondern aus der Sicht des Sidekicks Jim. War der entflohene Sklave im Original aus dem Jahr 1885 ein liebenswerter, aber recht simpel gestrickter Zeitgenosse, ist er bei Percival Everett ein gebildeter, feinfühliger junger Mann, der lieber als James angesprochen werden möchte. Jim ist er nur, wenn Weiße in der Nähe sind. Das wirkt schlichter und harmloser. Deshalb unterhalten sich die Sklaven in der Gegenwart weißer Menschen auch in einer etwas einfältigen Kunstsprache, damit diese sich stets überlegen fühlen und keinen Anlass für Bestrafungen haben. „Je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir“, ist die einhellige Meinung.

Diese Sklavensprache ist ein toller erzählerischer Kniff (ähnlich Colson Whiteheads Idee, aus der „Underground Railroad“ eine echte Eisenbahn zu machen), wirkt aber gerade in der deutschen Übersetzung doch etwas gewöhnungsbedürftig. Kostprobe: „Vielleich lernich min Büchern ja selber lesn.“

An die Kunstsprache gewöhnt man sich beim Lesen aber schnell (ohnehin kommt sie im weiteren Verlauf des Buches immer seltener zum Einsatz) und dann staunt man über die Meisterleistung, die Percival Everett gelungen ist. „James“ liest sich genauso süffig und leicht wie Mark Twains Original, ist aber zugleich erschütternd, aufwühlend, brutal und damit deutlich näher an der Wirklichkeit. Für James, der sich nichts sehnlicher wünscht als ein freies Leben für sich und vor allem seine Frau Sadie und die kleine Tochter Lizzie, ist die Flucht eben kein launiges Abenteuer, sondern eine Existenzfrage. Jeder noch so kleine Fehler – wie der Diebstahl eines Bleistifts – kann schlimmste Folgen für ihn oder andere haben. Ob die Geschichte für James ein gutes Ende nimmt, bleibt offen – zumindest ist am Ende doch ein wenig Hoffnung.

In diesem Augenblick trat mir die Macht des Lesens deutlich und real vor Augen. Wenn ich die Worte sehen konnte, dann konnte niemand sie oder das, was sie mir gaben, kontrollieren. […] Es war eine vollkommen private Angelegenheit, vollkommen frei und daher vollkommen subversiv.

Ein großartiger Roman, der in einer längst vergangenen Zeit spielt und zugleich mehr über das Amerika der Gegenwart erzählt, als einem lieb sein kann.

  • Percival Everett: „James“; Hanser 2024; 336 Seiten; ISBN: 978-3-446-27948-3.
    Ins Deutsche übersetzt von Nikolaus Stingl.
  • Zum Weiterlesen: Mark Twain – „Tom Sawyer & Huckleberry Finn“ (Anaconda 2011; 672 Seiten; ISBN: 978-3-866-47698-1) // Deutsch von Lore Krüger und Barbara Kramer-Neuhaus.

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